Hungerjahr 1816

Karline Schneebeli (geborene Frick, gelebt 1855-1940) aus Herferswil hatte 1939 in einem Aufsatz beschrieben, wie ihre Mutter das Jahr 1816 erlebt hatte.

Wir leben gegenwärtig in ganz schwierigen Zeiten (Kriegs-Jahre ca. 1939) und wenn man die Zeitungen liest, muss man denken wie viel Not und Elend hat‘s allerorten und doch sind nicht Miss­ernten daran schuld wie anno 1816.

Meine Eltern haben jene Zeit durchmachen müssen und haben mir dutzendmal davon erzählt. Dazumal waren die Leute nicht so auf Viehzucht eingestellt. Sie mussten Ackerbau betreiben da sie die Lebensmittel selber pflanzen mussten, weil noch keine Eisenbahn und Dampfschiffe vorhanden waren, somit auch die Einfuhr ganz unbedeutend war. Die grossen Bauern hatten wohl etwas Vorrat, aber nicht für lange Zeit.

Dann kamen Missjahre und das Jahr 1816 war das Schlimmste von allen, man konnte im Frühjahr zur Not anpflanzen. Dann kam kaltes Regenwetter den ganzen Sommer hindurch, z.B. der Weizen blühte erst anfangs September. Im November wurden die Ähren vom Stroh geschnitten und auf dem Ofen getrocknet. Es war ein milchi­ges Korn vorhanden das dann geröstet und alsdann zu Mus oder Suppe verarbeitet wurde. Futter für das Vieh konnten sie auch nicht dörren, es verfaulte fast auf den Wiesen.

Der Viehbestand war natürlich nicht so gross wie heute, es waren etwa 10 Kühe vorhanden für Hausmilch. Pferde hatten nur die Müller. Die Kartoffeln waren gar nicht geraten dieses Jahr. Meine Mutter sagte eine Base und sie hätten an einem Tag einen kleinen Kratten voll ausgehackt, die grössten wie Baumnüsse. Wenn sie den Karst aus der Erde zogen war das Loch voll Wasser. Die Kartoffeln durften nicht gegessen werden, sie mussten als Saatgut aufbewahrt werden. Man kann sich vorstellen, wie das ein Winter wurde. Es ging noch so bis Neujahr, dann kam‘s schwierig, die Leute mussten fast verhungern.

Eines Abends sagte meine Grossmutter zu meiner Mutter, was meinst, möchtest du mit mir nach Zürich laufen über den Albis, dann bekämest du wieder einmal genug zu essen. Sie musste einen Kapitalzins im Florhof abgeben und dann bekam sie jedes Mal ein Mittagessen. Mit Freude sagte meine Mutter zu, obschon sie erst 8 Jahre alt war(geb.1809). Morgens sechs Uhr gingen sie von Herferswil fort, um die Mittagszeit kamen sie beim Zinsherrn an. Er fragte sie erstaunt ob sie den Zins doch zusammengebracht hätten, er habe das nicht erwartet. Aber jetzt müsse er ihnen leider sagen, dass sie nicht mit ihm Mittagessen könnten, weil er in Gottes Namen selber nichts habe. Da kam ein grosser Schrecken über die Beiden, doch sagte der Herr, hier habt ihr einen Kronentaler, dass ihr etwas zu essen bekommt. Da gingen sie die Marktgasse hinunter in eine Bäckerei und verlangten Brot. Da hiess es, wenn ihr keine Marken habt, ist es mir bei Todesstrafe verboten Brot zu geben. Das Mehl ist mir beim Lot abgewogen für meine Kunden.

Das war ein trauriger Bescheid. Nun gingen sie weiter bis in die Enge in die Wirtschaft „zur Geduld“ und verlangten etwas zu essen. Habt ihr Marken? Nein, da erhielten sie die gleiche Ant­wort wie beim Bäcker, obschon die Grossmutter erklärte „woher und wohin“ und sie heute noch Keinen Bissen zu essen bekommen hatten. Nun sagte sie müssen wir ohne etwas gegessen zu haben noch heim.

Die Grossmutter musste noch in einen Laden um Knöpfe zu kaufen. Als sie eintraten standen einige Personen dort und klagten einander, dass sie vor Hunger fast sterben. Es sahen auch alle fast wie Leichen aus. Da sagte die Grossmutter: Ich sehe schon, wir haben nicht alleine Hunger. Sie erzählte ihr Schicksal von heute. Da nahm der Krämer ein Stück Brot vom Laden und sagte: Mein Kind wenn du das erste Mal in Zürich bist, musst du nicht sagen, dass du nicht ein Stücklein Brot bekommen hast, ich will mit dir teilen. Ich bekomme noch drei Tage kein Brot, aber eine Stun­de früher oder später, wenn Keine Hilfe kommt muss ich auch ster­ben wie viele andere auch. Nun zerschlug er das steinharte Brot mit einem Hammer. Es zersprang in fünf Stücklein, zwei behielt er, drei gab er mir, alle weinten. Als wir auf der Strasse waren gab ich der Mutter das grössere Möckli. Wir versogen es wie Zucker und hatten es bis Adliswil noch im Munde. So erzählte die Mutter manchmal.

Sie kamen doch noch heim, hatten auf dem Weg sich manchmal gefragt, gibt‘s vielleicht doch noch etwas zu essen, aber was. Als sie in die Küche kamen, hatte die Base doch das Nachtessen in der Pfanne. Es bestand aus lauter giftfreien Gräsern welche die Leute daheim auf den Matten gesucht hatten. Die Ihrigen glaub­ten als wir eintraten, die haben jetzt nicht so Hunger und bringen noch etwas zu essen mit. Aber da hatten sie sich getäuscht. Auch Fett war keines vorhanden, da man für die Schweine kein Futter hatte. Alle Leute mussten so von Gras und Schnecken leben. Als keine Weissen mehr vorhanden waren wurden auch Rote gekocht.

Da endlich war etwas Getreide aus Ägypten angekommen, denn die Bergpässe waren schneefrei geworden. Es musste mit Mauleseln über den Gott­hard getragen werden, vorher bis Genua mit dem Segelschiff, dann mit Wagen bis Gotthard.

Das Fleisch galt das Pfund 35 Rappen, warum assen die Leute nicht solches? Ist bald gesagt, die Kühe durften nicht geschlachtet werden, denn sie waren nur Haut und Knochen. Waren die Kühe nicht mehr da, von wem sollten die Leute die Milch nehmen, wenn wieder Futter vorhanden war.

Bald kamen die Kirschen, es gab gottlob sehr viel und das Jahr 1817 war ein sehr fruchtbares Jahr. Aber eben bis etwas gewachsen war ging‘s schmal zu. Als die Regierung sah, dass wieder eine gute Ernte bevorstand gab sie die letzten Getreidereserven aus den Kornhäusern frei, da ging‘s wieder besser.

Aktualisiert: 09.12.13/H. Hinnen

Siehe auch Tagesanzeiger vom Juni 2013 (klick) 

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